Ein vergessener, vielseitiger Erfinder

Baron Paul L. Schilling v. Canstatt

Ritter und Wirklicher Staatsrat am Zarenhof (* 1786 zu Reval, + 1837 zu St. Petersburg)

 

Paul Schilling v. CanstattPaul S.v.C. war nur eine Lebenszeit von 51 Jahren vergönnt, in denen er aber auf den verschiedensten Gebieten rastlos tätig war. Er wurde, obwohl Abkömmling unseres schwäbischen Geschlechtes, im April 1786 im damals russischen Reval geboren.

Sein Vater war zu jener Zeit Lieutenant im russischen Militärdienst. Leider starb dieser schon im Februar 1797 als Oberst, Georgenkreuzritter und Chef des Nisow'schen Musketier-Regimentes in Kasan (etwa 700 km ostwärts Moskau an der Wolga).

Sein Sohn Paul trat schon mit neun Jahren als Fähnrich in das Regiment seines Vaters ein. Im Todesjahr war Paul erst 11 Jahre alt, avancierte aber schon zum ersten Kadettencorps und mit 16 Jahren, anno 1802, versetzte man ihn im Range eines Second-Lieutenant zum russischen Generalstab.

Seine Mutter hatte in zweiter Ehe den (1749) in Stuttgart geborenen - ebenfalls in russ. Diensten stehenden - Baron Karl von Bühler, geheiratet, der russischer Gesandter in München wurde. Daher wird es Paul sehr begrüßt haben, dass er im Mai 1303 als "Translateur" - also Dolmetscher - der dortigen russ. Gesandtschaft zugeteilt wurde.

Seine "Muttersprachen" waren natürlich deutsch und russisch, er sprach aber auch sehr gut französisch - wie das ja bei gebildeten Menschen in Rußland üblich war - und er sprach ein brauchbares Englisch. Später erweiterte er seine Sprachkenntnisse noch erheblich um Indisch, Tibetanisch, Mongolisch und Chinesisch. Hierbei ist ihm zweifellos sein phänomenales Gedächtnis zugute gekommen. Eine solche Gedächtnis-Konzentration hat aber offenbar auch zur Folge, dass man oft Nächstliegendes vergisst. So wird berichtet, daß er oft seinen Diener aufforderte, seine Brille zu suchen, deren er viele besaß, obwohl er schon die zweite oder dritte auf seine Stirn geschoben hatte.

In München machte Paul 1805 die Bekanntschaft des als Naturwissenschaftler und Arzt hochangesehenen Samuel Thomas v. Soemmerring. der bekanntlich auch einige Zeit an der Mainzer Universität tätig war. Aus dieser Bekanntschaft entwickelte sich eine enge Freundschaft, die von 1810 an für einige Zeit zu einer intensiven Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Anwendung des galvanischen Stromes führte.

Zunächst aber noch einen kurzen Blick auf die damals herrschenden politischen und allgemeinen Zustände:

Das letzte Drittel des 18.und das erste Drittel. des 19. Jh. waren für Europa und Amerika wohl mit die bewegendsten und aufregendsten Zeiten. Als Paul 3 Jahre alt war, brach die französische Revolution aus, deren Radikalität ja alle Fürstenhöfe Europas erzittern ließ. In Amerika besiegte 1781 George Washington mit Hilfe französischer Hilfstruppen die Engländer; 1783 erkennt England die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten an. Die freiheitliche amerikanische Verfassung tritt 5 Jahre später in Kraft. In England regierte damals König Georg III., auf dem österreichischen Thron saß der reformfreudige Joseph II., der 1781 die Leibeigenschaft und die Folter verbot, Religionsfreiheit gewährte, die Klöster aufhob und sogar Nichtkatholiken die Einwanderung nach Österreich erlaubte. Er starb 1790, also 1 Jahr nach Ausbruch der französischen Revolution. In Preußen war 1786 - also im Geburtsjahr Pauls, Friedrich der Große gestorben. Friedrich Wilhelm II. regierte bis 1797. In Russland herrschte im wahrsten Sinne des Wortes die Zarin Katharina II.. Ich sollte aber auch erwähnen, dass 1786 das Jahr der Herausgabe des Buches von den "Wunderbaren Reisen des Barons von Münchhausen" gewesen ist und dass damals Haydn die 6 Pariser Symphonien schrieb und Mozart "Figaros Hochzeit" komponierte. Cartwright baute den ersten brauchbaren mechanischen Webstuhl und Watt verbesserte seine 1765 erfundene Dampfmaschine durch die Erfindung der Kolbenstange und des Zentrifugal-Regulators.

Es gab also auch Positives und Erfreuliches zu berichten. Überschattet aber wurde die Zeit zweifellos am meisten durch das, was an Frankreichs Himmel heraufzog: eine Ära nicht endenwollender Kriege, die begann mit dem Vorrücken französischer Truppen zum Rhein kurz nach dem Ausbruch der Revolution und sich fortsetzte in dem Feldzug gegen Italien (1796), bei dem zum ersten Mal der Name Napoleon auftaucht, der fortan die Geschicke Europas bis in die fernsten Winkel beeinflußt, bedrängt und verändert. Nur 8 Jahre später wird Napoleon 35jährig zum Kaiser gekrönt. 1805 folgt die sogenannte "Drei Kaiser Schlacht" in Austerlitz, wo sich Franz II. von Österreich, Zar Alexander I. und Napoleon gegenüberstehen. 1806 folgen dann Jena und Auerstedt im Rahmen der Feldzüge gegen Preußen und Rußland. 1808 beginnen seine Einfälle in Spanien und Portugal, die erst 1814 enden und 1809 zieht Napoleon gegen Österreich ins Feld. 1812 endlich überdehnt er seinen Bogen mit dem erneuten Feldzug gegen Rußland. Er scheitert vor Moskau und erleidet seine erste große Niederlage 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig, in der Preußen, Rußland, Österreich, England und Schweden gemeinsam gegen ihn antreten. Es folgt seine Abdankung nach dem Einzug der Verbündeten in Paris am 31. März 1814 und danach tanzt der Wiener Kongress bis zum Juni 1815.

Die Landkarte Europas verändert sich gründlich, nicht zuletzt aufgrund der nicht uneigennützigen Handschrift Metternich's. Es folgt das kurze Zwischenspiel der 100 Tage, während deren Napoleon seine Rückkehr an die Macht versuchte, aber dann in Waterloo am 18.Juni 1815 endgültig scheitert. Seine Zeit ist zu Ende. Auf St. Helena stirbt er 1821 im Alter von nur 52 Jahren ... und die Welt atmet vorübergehend auf.

Natürlich war es mehr als gewagt, in einer solch rigorosen Zeitraffung diese bekannten Fakten noch einmal zu erwähnen, aber sie sind vielleicht doch ein wichtiger Hintergrund bei der Betrachtung des Lebensweges dieses unscheinbaren, wenn auch gewitzten Mannes Paul SvC in russischen Diensten.

1812 wurde die russische Mission in München geschlossen und Paul kehrte nach St. Petersburg zurück. Seine gemeinsamen Studien und Experimente mit Soemmerring über die Eigenschaften und Anwendungsmöglichkeiten des galvanischen Stromes aber ließen ihn nicht mehr los. Soemmerring war auf die Idee gekommen, die Gasentwicklung, die die Einleitung galvanischen Stromes in Wasser verursachte, als Zeichengabe für die Übermittlung von Meldungen auf größere Entfernungen zu verwenden und erfand so den ersten elektrochemischen Telegraphen, der sich aber nicht durchsetzen konnte, da seine Anwendung zu ungenau und zu zeitaufwendig war.

Paul war dennoch von der Idee, mittels elektrischer Energie die Nachrichtenübermittlung zu beschleunigen, so fasziniert, dass er ständig über neue Möglichkeiten nachsann und dabei auf die Idee kam, die inzwischen bekannt gewordene Ablenkung der Magnetnadel durch elektrische Energie zur Zeichenübermittlung zu nutzen. Während dieser Arbeiten - und das schon in München - erfand Paul, quasi nebenbei, das erste wasserdichte Kabel. Er hatte Kupferdraht mit Seide überflechten lassen und dann mit Kautschuk, also dem eingetrockneten Milchsaft eines brasilianischen Baumes, umgeben. So konnte er Strom auch durch Wasser oder durch feuchte Erde leiten, ohne die Energie einzubüßen. Mit Hilfe eines solchen wasserdichten Kabels gelang ihm dann 1812 von Land aus auf einer Insel in der Neva vor den Augen des Zaren die Sprengung einer Mine, damals insbesondere für Militärs eine absolute Sensation. Diese Fernzündungen mittels des Unterwasserkabels demonstrierte Paul später auch in Bonn, Paris und London (übrigens wurde schon 46 Jahre später das erste transatlantische Kabel verlegt!). Gemeinsam mit Soemmerring entdeckte er in München aber auch die Möglichkeit, auf eine Rückleitung des Stromes durch eine gesonderte Leitung verzichten zu können, da Wasser oder feuchtes Erdreich diese Aufgabe problemlos selbst übernehmen.

Für eine möglichst rasche Nachrichtenübermittlung hatte sich Napoleon noch der sog. "semaphorischen Methode", d.h. der Nachrichtenübermittlung durch Sichtzeichen von hohen Masten aus, bedient. Das funktionierte auch relativ rasch, aber eben nur bei entsprechenden Sichtverhältnissen und dann für jedermann - auch für der Feind - einsehbar.

Paul mußte dann 1814, als Napoleon erneut Rußland bedrohte, seine Forschungen abbrechen, denn er hielt es für seine Pflicht, zu seiner Truppe zu eilen und sich reaktivieren zu lassen, um am Abwehrkampf gegen Napoleon teilzunehmen. Er tat das zuletzt im Range eines Rittmeisters und nahm an allen Einsätzen seiner Einheit teil - auch an dem Einzug der Alliierten in Paris.

Übrigens war er während des Vorrückens seiner Einheit in Karlsruhe und Mannheim, wo viele seiner Verwandten wohnten, erneut mit der ihm schon von München her bekannten neuen Druckmethode, dem Steindruck, der Lithographie, bekannt geworden und hatte erkannt, welche Vorteile diese Methode vor allem für den Druck genauer Karten mit sich brachte. Er überzeugte hiervon den russischen Generalstab und wurde beauftragt, für die Anwendung der Lithographie, die ja die Verwendung eines geeigneten Steinmateriales, der sog. Solnhofener Platten, erforderte, in Rußland zu sorgen. Dies gelang ihm und war später für die russische militärische Führung von großer Bedeutung. Im Rahmen dieser Aufgabe, nämlich der Beschaffung der Solnhofener Steine, reiste er wieder nach München und nahm erneut seine Verbindung zu Soemmerring auf. Hierbei lernte er auch den Forscher Schweigger kennen. Zu dritt unternahm man neue Versuche mit verschiedenen Stromquellen, darunter auch mit den neu bekannt gewordenen Trockenbatterien von Zamboni.

Bei der gleichen Reise kommt Paul auch nach Paris, wo er mit Ampere und Arago zusammentrifft und seine Fernzündungs-Methode mittels eines isolierten Unterwasserkabels quer durch die Seine vorführt. Bei diesem Aufenthalt knüpft er auch seine ersten Kontakte zu westeuropäischen Orientalisten.

Er hatte mit dem Studium der chinesischen Sprache begonnen und das offenbar, um seinem Land auch hier für besondere Dienste zur Verfügung zu stehen, denn Rußland war damals sehr daran interessiert, seine Beziehungen zu den östlichen Nachbarn zu fördern. So wurde er beauftragt, in den Jahren 1830-32 eine Expedition bis an die Grenzen Chinas zu leiten. Das Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften Hamel schreibt darüber:

"Es ist bewundernswert, was er auf dieser Reise für eine Menge chinesischer, tibetanischer und mongolischer Schriften gesammelt hat. Sie befinden sich jetzt im Asiatischen Museum unserer Akademie."

Hier sollte ich ein Zeugnis einfügen, das aus berufenem Munde stammt: von August Wilhelm v. Schlegel, Prof. an der Preußischen Rhein-Universität, Direktor des Rheinischen Museums der Altertümer, Ritter des Roten-Adler-Ordens, des St. Wladimir- und des Wasa-Ordens, Mitglied der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, Mitglied der Kaiserlichen Russischen Akademie zu St. Petersburg, der Königlichen Baierischen Akademie etc. Er schreibt anno 1826 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Indische Bibliothek:

An Herrn Baron Schilling von Canstatt in St. Petersburg

Es folgt ein 6-zeiliges,in indischen Schriftzeichen geschriebenes, Gedicht, das, wie aus der folgenden Anmerkung ersichtlich wird, eine von Schlegel selbst gedichtete Eloge auf seinen von ihm so geschätzten Bekannten Paul SvC darstellt. Unter diesem nur für indische Sprachkenner verständlichen Gedicht macht Schlegel folgende - hier nur in Stichwörtern wiedergebbare - Anmerkungen: der Name Paul Schilling v. Canstatt sollte in dankbarer Anerkennung genannt werden, besitzt er doch eine große Meisterschaft in der Kalligraphie (Schönschreibkunst) und Paläographie (Handschriftenkunde) ostasiatischer Sprachen. Man erhielt von ihm eine vortreffliche lithographierte Ausgabe zweier Schriften des Confucius. Auf seine Kosten hat er Mandshu-Tartarische Lettern schneiden lassen, die weit vorzüglicher sind als die einzigen bisher vorhandenen in der Königlichen Druckerei in Paris. Der so unzugänglichen Sprache von Tibet ist er bemüht, auf die Spur zu kommen und er gab mir der Kürze sehr wichtige Aufklärungen darüber. Die tibetanische Schrift ist nach der älteren indischen gebildet.

Vermöge seiner genauen Bekanntschaft mit jener, war Baron Schilling imstande, alte sanskritische Inschriften, ohne damals noch die Kenntnis der Sprache zu besitzen, in London richtig zu entziffern. Zu diesem Zwecke unternahm er eigens Recherchen nach Paris, Rom und London".

Schlegel fährt fort:

"Schilling brachte nach seiner Rückkunft von London einige Tage in Bonn bei mir zu. Eine viel zu kurze Zeit für mich, da seine Unterhaltung mir eine unerschöpfliche Quelle der Belehrung und Anregung war."

Schlegel schließt - verkürzt wiedergegeben - mit den Worten:

Indische Verse von einem europäischen Liebhaber können fast nur als scherzhafter Versuch gelten. Was ich aber über das seltene Sprachtalent des verehrten Mannes, über seinen unermüdlichen Eifer, und seine sinnreiche Entdeckungsgabe in den obigen Versen gesagt habe, ist ernst gemeint, und niemand, der ihn näher kennt, wird die mindeste Übertreibung darin finden. Im letzten Vers erlaubte ich mir eine Anspielung darauf, daß Schilling sich die Fertigkeit erworben hat, Schach zu spielen ohne sein eigenes Spiel und das seines Gegners zu sehen, eine Kraft des Gedächtnisses, welche für eine so vielfältige Sprachkunde sicher erforderlich ist, muß man doch unzählige Combinationen zugleich festhalten."

Soweit Schlegel über Paul v.Schilling.

Paul SvC auf ExpeditionDurch seine Tätigkeit im Außenministerium kam Paul mit der Kryptographie, also der Wissenschaft über Geheimschriften, in Verbindung. Dass er auch auf diesem Gebiet erfolgreich war, geht daraus hervor, dass er für das Ministerium ein so geheimes Alphabet erstellen konnte, die sog. Chiffre, dass man sicher war, dass sogar ein so "ausgeklügeltes Geheimkabinett, wie das österreichische" es in 50 Jahren nicht wird entschlüsseln können.

Nach der Rückkehr aus der Mongolei im März 1832 beschäftigte sich Paul offenbar sehr intensiv mit der praktischen Vervollkommnung seines Telegraphenprojektes. Nach einem Schreiben von Alexander v. Humboldt, das einem vom 31. Mai 1839 datierten "Gutachten über die elektromagnetische Telegraphie" eines preußischen Majors i.G. beigefügt ist, zeigte Paul in Berlin anno 1832 einige Teile seines Apparates, wobei Zar Nikolaus den sehr gelungenen Versuchen beiwohnte. - Als Paul seinerzeit übrigens einmal den Zaren bat, ihm einen Satz aufzuschreiben, den er telegrafisch übermitteln solle, schrieb der Zar in französisch: "Je suis charmé d'avoir fait ma visite à M. Schilling."

1835 nahm Paul an der "Versammlung der Naturforscher und Ärzte" in Bonn teil und auch dort präsentierte er den Telegraphen. Auf dem Wege nach Bonn besuchte er damals Gauss und Weber in Göttingen und auf dem Rückweg den Sohn Soemmerrings in Frankfurt, wobei er ebenfalls dem "Frankfurter Physikalischen Verein" seinen Apparat vorführte.

1836 unternahm er in Wien zusammen mit Jacquin und Ettinghausen Versuche über eine für telegrafische Zwecke optimale Leitungsisolation.

Seit längerer Zeit steht im Deutschen Museum in München eine exakte Nachbildung dieses ersten elektromagnetischen Telegraphen, der in seinen wichtigsten Konstruktionsteilen auch in praktische Anwendung ging, allerdings erst nach dem Ableben Pauls. Der Zar hatte ihm übrigens noch kurz vor seinem Tod den schriftlichen Auftrag erteilt, eine Telegraphenverbindung von Kronstadt nach St. Petersburg baldigst vorzulegen.

Paul in seinem ArbeitszimmerNun noch einige Worte zu der Frage der Priorität seines elektromagnetischen Telegrafen, wenn das auch Paul ziemlich gleichgültig gewesen sein muß. Er war nur an den Erfolgen seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten interessiert, wie er immer wieder betonte, nicht an solchen "patentrechtlichen Fragen", zumal die Erfinder im Zarenreich strengen Weisungen unterlagen, solche - schon fast zu Staatsgeheimnissen zählende - Erfindungen nicht preiszugeben.

Wieso aber konnte ein Kunstmaler namens Samuel Morse, der keinerlei Vorbildung in technischer Hinsicht besaß, für sich das Patent für einen derartigen Apparat bekommen und auch noch das Patent auf die ebenfalls in ihren Grundzügen von Paul erdachte Methode der dem sog. Morse-Code zugrundeliegenden Idee, nämlich anhand von nur zwei Zeichen (Punkt/Strich oder kurz/lang), alle Buchstaben und Zahlen deutlich machen zu können. Das war nämlich mit die entscheidende Voraussetzung für einen reibungslosen und unkomplizierten Einsatz dieses Gerätes.

Nun, die Dinge haben sich später weitgehend aufklären lassen. Als seinerzeit Paul in Frankfurt seinen Telegraphen vorführte, war auch der sehr angesehene - aber auch etwas verträumte - Professor der Physik Muncke von der Heidelberger Universität anwesend und erbat von Paul v. Schilling die auch gewährte Erlaubnis, den Apparat für seine Lehrvorträge in Heidelberg nachbauen zu dürfen. Dort hörte dann ein Engländer namens Cooke, der an sich im Auftrag seines Vaters, eines Arztes, Wachsmodelle von menschlichen Gliedmaßen anfertigte, von diesem neuen Apparat zur raschen Nachrichtenübermittlung und erkannte sofort dessen Bedeutung und Anwendbarkeit in England, wo der Eisenbahnbau ja sehr voranschritt und die rasche Benachrichtigung im Zugverkehr von größter Bedeutung war. Der Name des Erfinders war ihm aber unbekannt geblieben und er dürfte ihn auch wenig interessiert haben. Er glaubte Prof. Muncke habe ihn konstruiert oder aber Professor Gauß aus Göttingen. Das alles focht ihn aber ohnehin nicht an. Er brachte sich in den Besitz des Modelles, nahm es mit nach England, wo, wie von Cooke vermutet, dessen Nützlichkeit sofort und das Gerät - nach vereinfachenden Verbesserungen - auch sehr bald in großem Maßstabe eingesetzt wurde.

Der Kunstmaler Samuel Morse aus den USA aber kam auf den gleichen Gedanken, als er sich besuchsweise in England aufhielt, und machte sich mit der Funktion und dem Aussehen des Apparates vertraut, fertigte entsprechende genaue Zeichnungen und erklärte das Ganze bei seiner Rückkehr in die Staaten als seine Erfindung!

Von Cooke hatte er natürlich auch von dem praktischen zweistelligen Zeichensystem erfahren, was er dann ebenfalls auf seinen Namen eintragen ließ. Der Maler Morse war so also ein gemachter Mann und viele Denkmäler in den USA erinnern an diesen genialen "Kopisten".

Noch einige Worte zu den entscheidenden Grundzügen des Schilling'schen Telegraphen:

An einem entdrillten Seidenfaden hing innerhalb elektrischer Spulen eine waagerecht angebrachte Magnetnadel, die natürlich beim Einschalten des Stromes jeweils nach rechts oder links abgelenkt wurde und damit am Faden befestigte Papierscheiben, die auf einer Seite schwarz, auf der anderen weiß waren, entsprechend mitdrehte, so dass sie für den Betrachter schwarz oder weiß sichtbar wurden (vorher standen sie ja parallel zur Blickrichtung und waren also fast unsichtbar). Das technische Problem, das Paul lösen musste, war, dass die Magnetnadel sich beim Einschalten des Stromes wie wild zu drehen begann und es zu lange dauerte, bis sie endlich still stand. Um das zu erreichen, befestigte er am unteren Ende der Fäden einen kleinen waagerechten Platinbalken, den er in eine Quecksilberflüssigkeit eintauchte. Dadurch wurde das hektische Pendeln rasch gebremst und man konnte nun schnell ablesen, welche Position gemeint war.

Die UdSSR rechnete Paul zu den bedeutenden russischen Erfindern und ehrte ihn 1987 anlässlich des 150-jährigen Jubiläums seiner Telegrafen - Erfindung mit der Herausgabe einer Briefmarke, von denen sich einige in unserem Archiv befinden. In St. Petersburg erinnert eine Marmortafel an dem Gebäude, welches die Westseite des Marsfeldes im Zentrum der Stadt begrenzt (Eingang Nr.7) an die Wohn- und Arbeitsstätte Pauls in diesem Hause und an seine Erfindungen. Im Namen des Zaren wurde er auch mit einer Kamel- Expedition nach China entsandt, um die Beziehungen zu dem russischen Nachbarn zu verbessern. Bekanntlich spielten damals sehr lange Zeit deutsche Wissenschaftler, Ingenieure, Verwaltungsfachleute und Militärs eine oft maßgebliche Rolle im Zarenreich.

Gebäude an der Westseite des Marsfeldes, Nr. 7 - Wohnung des Paul SvC

Tafel im Gedenken an Paul SvC, an dem Gebäude wie links abgebildet

 

Am 25. Juli 1837 starb Paul v. Schilling mit 51 Jahren dann überraschend an einer Infektion in St. Petersburg. Er ist auf der Wassilijew-Insel auf dem lutherisch-weißrussischen Friedhof nahe des Eingangs links im Grab Nr. 2 beerdigt. Leider ist der nicht mehr genutzte Friedhof in einem traurigen Zustand. Auf dem Grabstein stehen folgende Inschriften:

Hier ruhet der wirkliche Staatsrat und Ritter Paul Baron Schilling von Canstatt, geb. 15. April 1786, gest. 25. Juli 1837

 

Hier ruhet der General Major und Ritter Alexander Baron Schilling von Canstatt, geb. 13. Nov. 1787, gest. 24. Jan. 1836 und die Gemahlin Pauline geb. v. Benkendorf, gest. am 9. Sep. 1836

(Alexander war Pauls Bruder)

Grab des Paul SvC auf dem Lutherischen Friedhof auf der Wassiljew-Halbinsel